In Sieben Phasen zu uns Selbst 

Von Margarete van den Brink

Artikel entnommen aus Info3-Magazine, no. 4, April 2010

Von der Eingebundenheit in kollektive Strukturen über die Individualisierung zur Gestaltung eines autonom verantworteten, neuen Ganzen führt ein Weg in sieben Phasen, der sich für die Autorin aus ihrer Lebenserfahrung und langjährigen Beratungspraxis ergeben hat. Der Einblick in diese Abfolge kann eine Hilfe für den Umgang mit individuellen Entwicklungsproblemen und –chancen sein.

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Von der Eingebundenheit in kollektive Strukturen über die Individualisierung zur Gestaltung eines autonom verantworteten, neuen Ganzen führt ein Weg in sieben Phasen, der sich für die Autorin aus ihrer Lebenserfahrung und langjährigen Beratungspraxis ergeben hat. Der Einblick in diese Abfolge kann eine Hilfe für den Umgang mit individuellen Entwicklungsproblemen und –chancen sein.

Warum geht es im Leben? Warum sind wir hier? Was soll ich mit meinem Leben anfangen?

Fragen wie diese haben mich viele Jahre meines Lebens intensiv beschäftigt, im Blick auf mich selbst wie auch in meiner Arbeit als Beraterin.

Die Antworten suchte ich zunächst in spirituellen Strömungen wie dem Buddhismus und der Theosophie, fand sie jedoch erst in der Anthroposophie. Mehr als in anderen Richtungen begegnete ich hier dem wichtigen Aspekt der Entwicklung in der Zeit. Ich verstand: Wir Menschen befinden uns auf einem Entwicklungsweg. Auf einem Entwicklungsweg sein bedeutet, dass wir Schritt für Schritt vorwärts gehen zu immer höheren Stufen des Bewustseins und der Existenz. Man kann auch sagen: des Menschseins. Das gilt für jeden einzelnen Menschen, aber auch für die ganze Menschheit auf Erden.

Die nächtste Frage war dann: Wie finde ich eine Form, die diese speziellen Schritte oder Phasen des Lebens für jedermann sichtbar und erfahrbar macht? Ich suchte dabei eine Übersicht, die nicht nur zeigt, warum wir Menschen auf Erde leben, sondern auch was das für mich als Person, für die Beziehungen zu meinen Mitmenschen und für die Welt bedeutet.

So ein Buch gab es vor zwanzig, dreissig, Jahre noch nicht. Also blieb mir nichts anders übrig als es selber aus der Anthroposophie heraus zu erarbeiten. Es folgten viele Jahre intensiven Studiums, in denen ich fortwährend die Einsichten aus der Anthroposophie mit meinen eigenen Erfahrungen verband.

Auf diesem Weg entstand an einem bestimmten Tag blitzartig das sogenannte Phasenmodell. Das Phasenmodell lässt sich kennzeichnen als ein Prozess mit sieben Phasen. Es sind Phasen, in denen immer wieder ein neues Element, eine neue Fähigkeit oder eine neue Eigenschaft zum Tragen kommt und sich weiter entwickelt. Jede Phase tritt wie selbstverständlich aus der vorigen hervor und schließt sich so der vorangehenden an und bildet so einen Entwicklungsweg.

Wie sieht dieser Weg nun aus?

Wir Menschen sind auf die Erde gekommen, um Individuum zu werden, selbständige Persönlichkeiten, die Verantwortung und Freiheit kennen und zwischen Gut und Böse zu unterscheiden wissen.

Das gelingt jedoch nur, wenn wir den geistigen Menschen, der in uns lebt, unser ureigenes Selbst, in diese Persönlichkeit zum Ausdruck bringen.

Um diesen Weg zu ermöglichen haben wir uns immer mehr aus vorgegebenen, geistigen Verbundenheiten gelöst. Ein Individuum kann man nicht in einer geistigen Welt werden, dazu braucht man die Verhältnisse des Irdischen.

Eine der wichtigsten Entdeckungen, die ich während meiner Studium gemacht habe, liegt darin dass wir Menschen heute an einem entscheidenden Punkt unserer Entwicklung angekommen sind.

Eine viele Millionen Jahre dauernde Evolution brachte uns dahin, wo wir jetzt stehen: wir sind selbständige Persönlichkeiten geworden die sich des eigenen Ichseins bewusst geworden sind. Damit kommt der erste Hälfte der Evolution – der alte Entwicklungsstrom - zur Ende.

Jetzt muss die zweite Hälfte der Evolution beginnen. Diese zweite Hälfte bringt jedoch völlig neue Entwicklungsaufgaben. Warum? Weil im Gegensatz zu der erste Hälfte die Entwicklung nicht mehr von selbst geht. Wir müssen jetzt von Innen her selber aktiv werden.

Die erste Hälfte der Entwicklung war eine Bewegung in verschiedenen Phasen von der geistige Welt aus zur Erdenbürgerschaft und Ichheit. Die zweite beginnt im Inneren des Menschen, in den Tiefen des geistigen Selbst, und führt ebenfalls durch verschiedene Phasen, zurück in die geistigen Welt – aber jetzt als bewusstes Individuum und geistig erwachter Mensch.

Wer ist dieser geistigen Selbst, unser höheres Selbst?

Unser höherer geistiger Mensch ist ein Teil der Gottheit, die alles auf der Erde und im Kosmos mit Leben, Bewusstsein und Kraft durchzieht und trägt. Wie das Göttliche, so besteht auch dieses innere geistige Wesen aus umfassendem, hohen Bewusstsein, aus Kraft und Weisheit. Es sind geistige Kräfte die wir durch Arbeit an uns selbst aber noch entwicklen müssen.

Dieser Übergangszustand ist mit Unruhe, Chaos und vielen Probleme verbunden, individuell wie auch in die Beziehungen zu einander und in der Gesellschaft.

Das Alte, Vertraute, verabschiedet sich, und die neuen Griffe, das neue Bewustsein ist noch nicht da. Beim Verständnis dieser großen Veränderungen kann uns der Entwicklungsweg in Phasen, das Phasenmodell, behilflich sein.

Wie sieht das Phasenmodell nun genau aus? Es unterscheidet sieben Phasen der Entwicklung:

1. Die ungeteilte Einheit
2. Die alte Gruppe
3. Die Ich-Person
4. Die Transformation
5. Das geistige Selbst
6. Die neue Gemeinschaftlichkeit
7. Die differenzierte Einheit

Phase 1: Die ungeteilte Einheit

Phase 1 ist der Zustand in dem wir noch ganz aufgehoben sind in einer Späre von Einheit und Geborgenheit, in Gott, in der geistigen Welt, wie wir es auch nennen wollen. Alles ist Eins.

Das Individuum spielt noch keine entscheidende Rolle.

In der individuellen Biographie finden wir Phase 1 in der Situation eines Babies im Mutterleib und kurz nach der Geburt. Um das erste Jahr lernt das Kind laufen und um das dritte Jahr fängt es an, von sich selber als „Ich” zu sprechen. Auf einmal kann es nun auch „nein” sagen. Damit beginnt für das Kind die Unterscheidung zwischen sich selbst und seiner Umgebung.

Phase 2: Die Alte Gruppe

Das aufwachsende Kind ist Teil einer Gruppe. Zuerst sind das Eltern und Verwandte, später die Schulgruppe und der Freundeskreis.

Auch hier, vor allem im frühen Stadium von Phase 2, besteht noch kein Bewusstsein von sich selbst als Individuum, losgelöst von der Gruppe. Im Gegenteil, man fühlt sich tief verwurzelt in die Gruppe zu der man gehört. Eine Gruppe definiert sich durch eine bestimmte Kultur: durch bestimmte Verhaltensregeln und Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Normen, Werte, Traditionen. Das Denken und Handeln der Gruppe überwiegt in dieser Phase das Denken und Handeln der Einzelnen. Das ist in diese Phase auch notwendig, weil das eigene Denken und Urteilsvermögen und damit die eigene Ichkraft noch kaum entwickelt ist.

In diese Phase ist es wichtig zu einer Gruppe zu gehören um Verbundenheit, Sicherheit und Anerkennung zu erleben. Erst diese ermöglichen es, die dann folgenden Schritte zu machen.

Phase 3: Die Ich-Person

Der erste Eintritt der dritten Phase in der das sich das eigene Ich-Gefühl entwickelt, zeigte sich schon am Ende von Phase 1, als das Kind „Ich” und „Nein” sagen lernte.

Um das 12. Lebensjahr herum mit Beginn der Pubertät fängt diese Phase aber erst richtig an. Ein neuer Schritt auf dem Wege zur persönlichen Selbständigkeit wird getan. Das eigene Denken entwickelt sich und man bildet sich eine eigene Meinung. Mit eigenen Standpunkten steht man anderen Menschen gegenüber. Das verursacht soziale Kollisionen. Der Loslösungsprozess von der Umgebung, von den Eltern und von anderen wichtigen Erwachsenen in der Gruppe tritt in eine neue Phase. Die eigene Persönlichkeit, das eigene Ich-Erleben und damit die eigene Identität, entwickelt sich in Form von Auseinandersetzungen.

In dieser Phase wächst das eigene Ego, das „niedere”, leibgebundene Teil des Ichs heran. Die Zusammenstöße mit der umliegenden Welt lehren uns, was möglich ist und was nicht, wer man ist und was man kann.

Das Freiwerden von den alten Gruppenformen und das Entwickeln des eigenen Ichs, der eigene Persönlichkeit, ist ein Prozess das das ganze Leben hindurch weiter geht. Diese dritte Phase, die der Ich-Person, ist sehr wichtig, weil das hier geformte Alltags-Ich später zum Instrument und Träger des innere Geistesselbst, der höheren Person, werden muss.

Phase 4: Die Transformation

Wenn die Entwicklung der Persönlichkeit, des Alltags-Ich, fortschreitet, tritt die nächste Phase ein: die Phase der Transformation. Es entsteht das Bedürfnis, sich nach innen, in die eigene Seele zu kehren. Aus der Tiefe des eigenen Innern steigen nun grundlegende Fragen auf und verlangen nach Antwort: „Wer bin ich eigentlich?” „Was will ich mit meinem Leben?” ”Etwas muss sich verändern – aber wie?” – Viele Menschen geraten in dieser Periode in eine Krise und wissen nicht mehr weiter.

Solche Krisen zeigen aber, dass das eigene geistige Selbst, das was man im tiefsten Wesen ist, sich rührt, aktiv wird, Anerkennung verlangt und geboren werden will. Diese Geburt des Geistselbst in der Seele, im Ich, gelingt jedoch nur, wenn man innerlich aktiv wird und nach Antworten sucht, die tief genug reichen und ernsthaft sind.

Phase 4 ist deshalb auch die Phase der Besinnung und der Reflexion. Man beschäftigt sich nachdenkend mit den wichtigen Fragen des Lebens, vor allem auch des eigenen Lebens. Man sucht sich vielleicht einen Coach, macht Biographiekurse, geht in Therapie. Alles mit der Absicht, sich selbst besser kennen zu lernen, das vergangene Leben zu verarbeiten, zu erfahren, wie man weiter will und was man ändern soll und welche neuen Fähigkeiten es zu erwerben gilt.

All diese inneren Bewusstseinsaktivitäten führen dazu, dass das geistige Selbst im Ich erwacht und dass tieferen Einsichten entstehen wie: „Das ist es, was Ich wirklich will” oder „Ja, das ist der richtige, wahre Hintergrund meines Lebens” oder „So ein Mensch will Ich werden”, „Das ist meine Mission”.

Solche Antworten, die man durch innere Besinnung bekommt und die man in der Tiefe als richtig und als wahr erlebt, sind Manifestationen und Antworten des eigenen inneren Geistes.

Auf wunderbare Weise beginnt mit dieser inneren Aktivität gleichzeitig die innere Tätigkeit des höheren Ich, des Geistselbsts.

Und es ist diese innere Tätigkeit des Geistesselbsts, welche die innere Transformation bewirkt. Ganz allmählich wird so durch dieses meditative, aktive, innere Suchen nach Antworten die Substanz des alltäglichen Ich, des Ego, transformiert in die Substanz des Geistes. Dadurch wachsen in uns die Kräfte von Bewusstsein und Weisheit und wir treten in eine neue Phase.

Phase 5: Das geistige Selbst

Je mehr man so an sich selbst arbeitet, je mehr nimmt die Kraft des Geistes, unseres geistigen Selbstes, in uns zu. Die Stütze und der Halt, die man vorher bei anderen Menschen oder in Verhaltensregeln oder Traditionen suchte, findet man zunehmend jetzt in sich selbst. Man lernt, auf diese neue Bewusstseinskraft zu vertrauen und aus ihr heraus zu leben. Man unterscheidet, was wichtig ist und was nicht und lernt ein Meister im eigenen Inneren zu werden.

Menschen, die auf dieser Weise den Halt in sich selber finden, können das gewöhnliche Ich, ihren Ego-Anteil, allmählich loslassen und über ihn hinauswachsen.

Die zunehmenden moralischen und bewussten Kräfte des höheren Selbst bewirken, dass etwas von einem ausgeht, das auch anderen Menschen Kraft schenkt und sie ermutigt.

Phase 6: Die neue Gemeinschaftlichkeit

Die wachsenden Kräfte des geistigen Selbst öffnen auf eine neue Weise auch die Tür zu unseren Mitmenschen, zu ihrer Persönlichkeit und ihrem Geist, ihrem tieferen Wesen und ihren Aufgaben.

Wann man über das eigene Ego und die eigene unfreien Anteile hinauswächst kann man die anderen besser sehen wie sie sind, mit ihren guten Seiten ebenso wie mit ihren Schwächen. Letztere lernt man einfach hinzunehmen. Der Andere ist ein Mensch in Entwicklung, wie man selbst.

Je mehr man sich selbst innerlich findet, je größer wird auch das Interesse am anderen Menschen.

Der Andere wird ein Rätsel, das man kennen und verstehen will und um dessen Wohl man sich bemüht.

Wann man den Anderen erkennt und akzeptiert wie er ist, mit all seinen Möglichkeiten und Problemen, wirkt man erweckend und heilend auf ihn. Das Geheimnisvolle liegt darin, dass in Menschen, die sich auf diese Weise wahrgenommen (für wahr genommen!) fühlen, Impulse für ihre eigene Entwicklung erwachen. Und auch die Kräfte die sie dazu brauchen. Man wirkt da wie ein Olympisches Feuer, an dem der Andere sein Feuer entzünden kann.

Es geschieht aber noch mehr. Je tiefer man den Anderen, der so verschieden von einem selbst ist, wirklich versteht, je mehr Wärme, Bezogenheit und Liebe man für den Anderen fühlt. Und umso mehr fühlt man sich auch mitverantwortlich für das Wohl dieses anderen und möchte ihm so viel wie möglich dabei behilflich sein – ihn auf freie Weise wahrnehmen, unterstützen und bestätigen.

Vielleicht wird uns in der Zukunft das Wohl des anderen Menschen sogar wichtiger werden als das eigene Wohl. Rudolf Steiner hat einmal angedeutet, dass eine Zeit kommen wird, in der wir nicht mehr werden ruhig schlafen können, wenn auf der Erde noch ein Mensch ist, der leidet.

Die sechste Phase ist die Phase der Geschwisterlichkeit und Brüderlichkeit unter Menschen.

Phase 5 ist die Phase der Weisheit. In Phase 6 kommt zu der Weisheit die Liebe hinzu.

Phase 7: Die differenzierte Einheit

Das Phasenmodell zeigt, das jeder Mensch sich als Individuum auf eine ureigene Weise entwickelt. Jeder bringt den Geist auf eine einzigartige Weise zum Ausdruck. Der individuelle Geist ist das Neue, das wir Menschen mit unserer Entwicklung der Schöpfung hinzufügen.

Obwohl verschieden, sind wir durch den alles und jeden durchziehende einen Geist doch Eins – und deshalb im Tiefsten miteinander verbunden.

In Phase 7 formen wir Menschen miteinander eine vielfarbige, vieltönende Einheit.

Weil wir Individuen sind, aber doch im Tiefsten mit einander verbunden, ist die Entwicklung jedes Einzelnen so wichtig für die Entwicklung des Ganzen, der ganze Menschheit.

Dessen wird man sich in Phase 4 und den weiteren Phasen mehr und mehr von innen heraus bewusst und handelt danach.

In Phase 5 lernt man sich selber aus dem inneren Geist heraus tragen. In Phase 6 kommt dazu das Tragen von kleinen Gruppen anderer Menschen. In Phase 7 ist der innere Geist von Weisheit und Liebe in uns so stark geworden, dass wir beginnen können, miteinander große Gruppen und eben die Menschheit als solche in ihrer Entwicklung zu tragen.

Einige Bemerkungen

Wichtig bleibt am Schluss noch die Anmerkung, dass der hier beschriebene Entwicklungsprozess kein lineares Geschehen ist, wo jede Phase erst völlig durchlaufen wird, bevor die nächste eintritt, sondern ein zyklisches Prozess. Das bedeutet, dass wir immer (vor allem in Phase 4) zurückkehren in frühere Phasen, um noch verbliebene Aspekte oder Eigenschaften von uns selbst kennenzulernen und mitzunehmen in die Entwicklung.

So kann man Beispielsweise schon überwiegend in Phase 4 leben und doch Angst haben für autoritäre Personlichkeiten, wie zum Beispiel vor dem eigenen Vater, die einem unfrei machen. Da gibt es dann noch Arbeit in Phase 2 zu tun. Oder wir werden uns in Phase 4 bewusst wie wenig man in sich selbst, im eigenen Ich steht, und sich deshalb schwierig gegenüber andere Menschen behalten kann: Dann muss die Phase 3 erst noch reifer entwickelt werden.

Männer und Frauen gehen übrigens manchmal durchaus auf eine verschiedene Weise durch die Übergänge zwischen den Phasen. So ist der Schritt von Phase 2 zu Phase 3 in der Regel für Frauen größer. Für Männer dagegen ist das der Übergang von Phase 3, die Ego-Phase, in Phase 4: in die eigene Seele hinein, oft schwieriger.

Im übrigen gilt für das Phasenmodell, was mir einmal ein Manager sagte, der damit arbeitete: „Man kann es studieren und interessant finden, aber erst wenn der Groschen gefallen ist, wird es wirklich lebendig.”

Das Phasenmodell macht auch die Entwicklung sichtbar von Gruppen, Beziehungen und Organisationen.

Mehr darüber unter Die 7 Phasen auf dieser Website.

 

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