Die Suche nach der unsichtbaren Stadt Kitesch 

Eine literarische und musikalische Reise in das alte Russland  

Dr. Harrie Salman (Holland)

Meinem Freund Prof. Michail N. Popov zu seinem 60. Geburtstag festlich zugeeignet

Meine erste Reise in die Sowjetunion fand 1982 statt. Es war eine grosse Reise per Auto über Lwow, Kiew, Moskau und Petersburg, die ich 1989 in umgekehrter Richtung wiederholte. Seitdem bin ich immer wieder nach Russland gereist, um neue Regionen dieses faszinierenden Landes zu entdecken und neue Menschen kennenzulernen. Eine grosse Freude bereiten mir immer die Begegnungen mit Michael Popov. Zu unserer Verwunderung stellte sich heraus, dass ich viele Teile Russlands bereist und Aspekte der russischen Geschichte untersucht habe, die er nicht gut kennt. Dazu gehört auch die Legende der unsichtbaren Stadt Kitesch.

“Es ist nicht das erste Mal, daß wir, von der Freiheit träumend, ein neues Gefängnis bauen”, sagte Maximilian Woloschin ein Jahr nach der Russischen Revolution in dem Gedicht «Kitesch». Das heilige Rußland entfernt sich immer weiter, es führt kein Weg mehr dorthin. Was bleibt, ist der Traum von Freiheit und Unabhängigkeit: “Auf dem Grund der Seele läuten die Glocken des vom Wasser bedeckten Kitesch - unseres unerfüllten Traumes.”1

Das Bild der unsichtbaren Stadt Kitesch hat in der russischen Kultur durch die Jahrhunderte hindurch das Ideal von einer Gemeinschaft, die mit religiösen Kräften aufgebaut wird, am Leben erhalten. Das russische Volk ist im Laufe der Zeiten in eine immer größere Versklavung geraten, die mit dem Tatareneinfall eingesetzt hat und sich bis ins 20. Jahrhundert fortgesetzt hat. Vor einem Jahrhundert lebte bei vielen Menschen das Ideal einer zukünftigen Gemeinschaft. Mit dem Bild der Stadt Kitesch projezierten sie den spirituellen Kern des alten Rußlands in die Zukunft.

Das Wesen des alten Rußlands ist nicht in Kiew zu finden, wo ein starker byzantinischer Einfluß wirksam war, sondern im fernen Nordosten des Landes, in dem Gebiet von Rostow, Murom und Wladimir. Hier, im Land der ermordeten Brüder Boris und Gleb, wurde der Keim gelegt für das zukünftige Rußland. Der Nährboden für dieses neue Rußland ist das Christentum der Bogomilen, das seit dem 10. Jahrhundert von Bulgarien aus nach Kiew und, meiner Meinung nach, auch in den Nordosten gekommen ist.

Im Gebiet der russischen Bogomilen fand eine Entwicklung statt, die auch bei den Katharern (den südfranzösischen Bogomilen) zu beobachten ist. Dort war nämlich im 12. Jahrhundert eine Kultur entstanden, in der die weiblichen Seelenqualitäten gepflegt und besungen wurden. Das wirkte noch hinein bis in den Bau der großen französischen Notre Dame-Kathedralen (Marienkathedralen). In demselben Jahrhundert wurden auch überall in Nordostrußland Marienkirchen gebaut. Deutsche Baumeister waren an der Arbeit mit beteiligt.

Großfürst Andrej Bogoljubski von Wladimir (er regierte 1157-1174) ließ drei Marienkirchen bauen, und zwar die wunderschöne Mariä-Himmelfahrts-Kathedrale in Wladimir, die kleine Mariä-Schutz-Kathedrale am Fluß Nerl, in der Nähe seiner Residenz Bogoljubowo bei Wladimir, und die Mariä-Geburts-Kirche in Bogoljubowo. Damit machte er die Gottesmutter zur Beschützerin seines Fürstenstums Wladimir. Wegen seiner Bautätigkeit nannten die Chroniken ihn einen «zweiten Salomon». Bogoljubski strebte nach kirchlicher Unabhängigkeit von Byzanz und wollte in Wladimir das neue Zentrum der russischen Kirche gründen. In der Mariä-Himmelfahrt-Kathedrale, die in den Plänen Bogoljubskis der neue Sitz der Metropoliten der russischen Kirche werden sollte, erhielt die später so genannte Ikone der «Gottesmutter von Wladimir» ihren Platz.

Die Mariä-Schutzkirche am Nerl gilt als das Meisterstück der Architektur dieser Zeit. Sie ist das Symbol einer Kultur, die sich unter dem Schutzmantel der Maria-Sophia entwickeln möchte. Sie wurde 1165 gebaut, ein Jahr nachdem Bogoljubski das Fest des Schutzmantels der Gottesmutter eingeführt hatte. Nach der Legende wurde auch die Stadt Kitesch 1165 gebaut. Diese Bauimpulse entsprangen der gleichen Inspirationsquelle. Bogoljubski, der 1174 in Bogoljubowo ermordet wurde, wird in der Legende der unsichtbaren Stadt Kitesch genannt.

Die Kitesch-Legende

In der Kitesch-Legende wird erzählt von Fürst Georgi (Juri), dem Sohn von Wsewolod, dem Fürsten von Nowgorod und Pskow. Georgi folgte ihm 1163 auf den Thron in Pskow und machte damals eine Reise zum Fürsten Michail von Tschernigow, um seine Zustimmung für den Bau von Kirchen und Städten zu erbitten. Anschließend ließ er 1164 in Nowgorod, Moskau und Rostow Kirchen zu Ehren der Gottesmutter bauen. In Rostow begegnete er Andrej Bogoljubski, den er bat, in Murom eine Maria-Kirche zu bauen. (Im gleichen Jahr hat Bogoljubski das Fest des Schutzmantels der Gottesmutter eingeführt, gleichsam durch diese legendenhafte Begegnung inspiriert). Er selber reiste nach Klein Kitesch an der Wolga, wo er ein Kloster bauen ließ. Er reiste noch ca. 100 km weiter und kam an den See Swetlojar. Am Ufer dieses Sees ließ er 1165 Groß Kitesch mit drei Kirchen bauen, von denen zwei der Gottesmutter geweiht wurden. Die Stadt war 213 mal 426 Meter groß. Nachdem die Bauten vollendet waren, reiste er 1168 wieder zurück nach Pskow. 1239 mußte er wieder nach Kitesch kommen, um es gegen die Tataren von Batu zu verteidigen. Klein Kitesch wurde verwüstet und ein Verräter zeigte den Weg nach Groß Kitesch, das auch überrumpelt wurde. Der Chronik nach kam Fürst Georgi dabei am 4. Februar 1239 ums Leben.

Historisch gesehen ist das eine merkwürdige Geschichte. Bei dem Einfall der Tataren wurde Großfürst Juri Wsewolodowitsch (geboren 1189), der Herrscher von Wladimir (und nicht von Nowgorod und Pskow), am 4. März 1238 in der Schlacht am Fluß Sit, nordwestlich von Jaroslawl, getötet. Juri war verheiratet mit einer Schwester von Michail von Tschernigow. Andrej Bogoljubski war ein Bruder von Juris Vater Wsewolod Georgijewitsch, der vor Juri Großfürst von Wladimir gewesen war. Wsewolod von Nowgorod und Pskow, der übrigens schon 1137 gestorben ist und nicht 1163, war ein Vetter des Großfürsten Wsewolod Georgijewitsch von Wladimir, und hatte keinen Sohn Georgi.

Dieser Teil der Legende ist Ende des 17. Jahrhunderts in der Stadt Gorodez an der Wolga aufgeschrieben worden, die als Klein Kitesch betrachtet wird und die 1237 tatsächlich von den Tataren überfallen worden ist. Juri Wsewolodowitsch hat hier auch einige Jahre gelebt. Danach folgt ein kurzer Teil, in dem gesagt wird, daß Groß Kitesch bis zur Wiederkunft Christi unsichtbar bleiben wird, und daß es noch mehr verborgene Städte und Klöster gibt. Des weiteren wird auf das Kommen des Antichrist hingewiesen, vor dem die Menschen flüchten werden. Gott wird sie jedoch nicht im Stich lassen.

Dann kommt der dritte Teil der Legende, eine Erzählung über das Wiederfinden der verborgenen Stadt Kitesch, die zurückgeht auf die Schrift «Botschaft eines Sohnes an seinen Vater aus jenem verborgenen Kloster» von 1702. In diesem Teil wird beschrieben, wie für einen Pilger die Stadt Kitesch wieder sichtbar werden kann, nachdem sie aufgrund des Gebets der Gläubigen und durch die Fürbitte Mariens, die die Stadt Kitesch behütet und beschirmt, durch Gottes Hand unsichtbar gemacht worden war. So beschützt Gott die Gerechten. Danach folgt noch eine Bemerkung über die Herrschaft des Antichrist im Fürstentum Moskau.

Diese Teile wurden Ende des 18. Jahrhunderts in dem Dörfchen Sopelki bei Jaroslawl an der Wolga gesammelt. Dort lebte eine Gemeinschaft von Altgläubigen, die zu den «Beguni» gehörten, religiöse Wanderer, die das Geld verwarfen und in vieler Hinsicht in der Bogomilen-Tradition standen. Die Kitesch-Legende ist ein Ausdruck ihrer Weltanschauung. In ihren Kreisen lebte die Überzeugung, daß Rußland seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, also nach der Kirchenreform und den Reformen Peters des Großen, in den Händen des Antichrist sei.

Die unsichtbare Stadt Kitesch war für sie die Stadt von Christus, das Neue Jerusalem. Aus ganz Rußland pilgerten die Sucher nach dem Reich Gottes an den See Swetlojar, in das Gebiet der Altgläubigen hinter der Wolga. Dort konnten die Menschen mit einem reinen Herzen die Stadt Kitesch finden. Nach der einen Version hatte Gott die Stadt dort unsichtbar gemacht, einer anderen Version zufolge war sie dort unter drei Hügeln am Ufer des Sees zu finden, nach einer dritten Version lag sie auf dem Grund des Sees.

Was ist nun der Hintergrund dieser Legende? Die Frage, ob es die Stadt Kitesch wirklich gegeben hat, beschäftigt viele Russen. 1936 hat der Philologe Komarowitsch ein Buch über die Kitesch-Legende publiziert, in dem er darlegte, daß das ursprüngliche Kitesch das Städtchen Kidekscha bei Wladimir gewesen ist und daß der Name «Kidesch/Kitesch» eine Umformung dieses ursprünglichen Namens ist.2 Diese übrigens umstrittene Theorie hat zu weiteren Nachforschungen geführt. Der Literaturgeschichtler Pantschenko aus Petersburg erzählte mir 1989, er habe 1957 eine Reise an den See Swetlojar gemacht, und am Ufer habe er ein Gespräch mit einer alten Frau aus der Umgebung gehabt, die ihm erzählte: “Einmal stand ich hier und schaute auf den See hinaus. Da kam ein kleines Boot angetrieben mit zwei Mönchen. Sie gingen an Land und liefen den Hügel hinauf. Ich drehte mich um und sah, wie der Hügel sich öffnete und dort war eine Stadt mit Kirchen, und es wurde ein Gottesdienst abgehalten. Ich dachte: Haben die Mönche ihr Boot nicht festgebunden? Ich schaute auf den See, aber da war kein Boot, ich schaute nach links, aber da war keine Stadt, der Hügel hatte sich geschlossen.”

Nicht jeder hat solche hellsichtigen Wahrnehmungen. 1959 beschloß der Philosoph Schestakow mit einer kleinen Expedition in die unsichtbare Stadt hinunterzutauchen. In einem späteren Aufsatz hat er einige Aspekte der Kitesch-Legende beschrieben.3 Der See, der eine elliptische Form hat (Länge 210 m, Breite 170 m), war, wie sich herausstellte, 28 m tief. Unter Wasser hat er die Form eines Kraters. Die Geologen haben mehrere solcher Seen in diesem Gebiet gefunden, die alle eine Folge von eingestürztem Boden sind, was aufgrund unterirdischer Wasserbewegungen in diesem Karstgebiet stattgefunden hat.

1969 wurde eine große Expedition mit Folkloristen, Archeologen, Tauchern und Geologen organisiert.4 Die Philologin Sawuschkina erzählte mir, sie habe mit ihren Studenten aus Moskau in der weiteren Umgebung Erzählungen über Kitesch gesammelt. Die Archeologen gruben in den drei Hügeln und fanden keine Spuren einer Besiedlung. Die Taucher stellten fest, daß sich unter Wasser zwei Plateaus befinden und Reste aufrecht stehender Bäume. Nach Auffassung der Geologen liegt der See am Schnittpunkt zweier Bruchlinien, von denen die eine bis nach Moskau und daran vorbei verläuft. Der Geologe Koslowski nimmt an, daß sich der See um 500 gebildet hat und daß das erste Plateau um 1200 und das zweite um 1600 entstanden ist. Die letzte Jahreszahl wurde bestätigt durch die Datierung der Baumreste, die untersucht wurden. Könnte es doch sein, daß 1237 eine «Stadt» unter dem Wasser verschwunden ist?

Ich habe 1990 und 1995 den See Swetlojar besucht. Der See, der auch der «Heilige See» genannt wird, liegt sehr malerisch. Das Wasser soll heilende Eigenschaften besitzen, und die ganze Natur hat eine kräftige Ausstrahlung. Es ist zu spüren, daß dies ein geweihter Ort ist. Der See liegt bei dem Dörfchen Wladimirskoje, ungefähr hundert Kilometer von Nischni Nowgorod entfernt, das 1215 von Juri Wsewolodowitsch begründet worden ist. In der Gegend von Swetlojar (und weiter nach dem Osten) lebte im Mittelalter der finnische Stamm der Tscheremissen. Dieses Gebiet lag ganz am Rande seines Herrschaftsgebietes.

Der Name «Kitesch» ist ohne Zweifel finnischer Herkunft. Die finno-ugrische Philologie leitet ihn vom alten finnischen Wort hiisi ab, das «Heiligtum», «kultische Stätte» bedeutet.5 Solche Stätten waren oft bei Quellen zu finden, und dort, wo die Natur besondere Lichtqualitäten und Heilkräfte zeigt. Der See Swetlojar könnte also schon in vorrussischen Zeiten eine heilige Stätte gewesen sein.

Der holländische Forscher Munin Nederlander vertritt die Idee, daß Kitesch das russische «Kadesch» ist.6 Kadesch ist die Oase in der Wüste Sinai, in der die Israeliten bei ihrem Auszug aus Ägypten in das Gelobte Land 38 Jahre geblieben sind und vom himmlischen Manna gelebt haben. Kadesch bedeutet «Heiligtum».

Es war der Mysterienplatz von Jethro und für die Israeliten ein Platz der Reinigung und Prüfung. Die Altgläubigen betrachteten ihre Flucht aus dem Reich des Zaren und des Patriarchen Nikon (mit seiner «ägyptischen», hierarchischen Struktur) als einen «Auszug aus Ägypten» und sahen sich selbst als das «russische Volk von Israel».7 Auf ihrem Weg ins Gelobte Land, das zukünftige Rußland, mußten sie auch in ihrem Kadesch warten. Ob sie für ihr Land hinter der Wolga dieses Bild verwendeten, ist mir nicht bekannt, aber es würde ihre Situation exakt beschreiben. In diesem Fall wäre das ein merkwürdiges Zusammenfallen der Bedeutungen des finnischen Wortes «Kitesch» und des hebräischen Wortes «Kadesch». Bei Komarowitsch ist zu lesen, daß Russen in dem weiten Umfeld von Swetlojar einige Siedlungen der Tscheremissen in ihrem Gebiet wegen der heidnischen Gebräuche dieses Volkes «Sodomowo» genannt haben. Das ist auch ein Ausdruck der spirituellen Geographie dieser Zeit.

Kitesch ist ein Bild für die zukünftige soziale und religiöse Ordnung Rußlands. Dieses Bild stammt meiner Meinung nach aus der Tradition der russischen Bogomilen, die im Nordosten Rußlands ihre spirituelle Kirche gegründet haben. Dort machten sie die unsichtbare Stadt der zukünftigen russischen Kultur für eine Zeitlang sichtbar. Es ist denkbar, daß die Bogomilen in der Zeit von Andrej Bogoljubski hinter der Wolga am See Swetlojar wirklich ein spirituelles Zentrum gegründet haben, das bestimmt keine Stadt gewesen ist - eher eine Gemeinschaft von Einsiedlern (skit), in der Mitte eines größeren geweihten Gebietes, das von der Stadt Goredez an der Wolga aus (100 km nach Westen) zugänglich war.

Die Legende gibt hierfür das Jahr 1165 an. Zweiundsiebzig Jahre später soll dieses Gebiet dann von den Tataren überfallen worden sein (1237), nachdem es von Fürst Juri von Wladimir vergeblich verteidigt wurde. Es ist sogar möglich, daß diese heilige Stätte am Ufer des Sees tatsächlich durch ein Absinken des Bodens unter Wasser verschwunden ist. Nach der Legende wurde es von Gott unsichtbar gemacht, aber es soll auf geistige Art zugänglich geblieben sein.

In einer spirituellen Deutung der Legende erscheint Kitesch als ein übersinnliches Gebiet, das am See Swetlojar zugänglich war. In der Tatarenzeit entfernte sich dieses Gebiet von der physischen Erde, aber in späteren Jahrhunderten kam es wieder näher. Wenn wir Kitesch als ein Bild der spirituellen Kirche der Bogomilen betrachten, können wir sagen, daß die Bogomilentradition, so wie die «Stadt» Kitesch, in der Tatarenzeit aus der sichtbaren Welt verschwunden ist. Ihre spirituelle Essenz wurde jedoch in die geistige Welt hinein gerettet und in das Unbewußte der russischen Kultur übergeführt. Aus diesen Bereichen heraus konnte diese Tradition den Weg in die Stadt der Zukunft weisen. Die Altgläubigen haben dann daran angeknüpft.

Von großer Bedeutung ist auch, daß in der Zeit, in der der Legende zufolge Kitesch gebaut worden ist, die Katharer in Südfrankreich ihre spirituelle Kirche aufgebaut haben (die 1244 mit dem Fall der Burg Montségur in den Untergrund gehen mußte) und die europäischen Troubadoure von Parzifals Suche nach dem Gral gesungen haben. Wenn man in dieser Tradition verbleibt, dann kann Kitesch die russische «Gralsstadt» genannt werden. Wie die französische Katharerbewegung von vielen Fürsten, wie den Grafen von Toulouse, unterstützt wurde, so könnte man auch vermuten, daß die russische Bogomilenströmung von den Fürsten von Wladimir, Andrej Bogoljubski und seinem Neffen Juri Wsewolodowitsch (die übrigens von der russischen Kirche heiliggesprochen wurden), beschützt wurde.

Das Gegenbild der Stadt Kitesch

In der kommunistischen Zeit wurden in der Sowjetunion die ketzerischen Strömungen der Vergangenheit sehr aufmerksam studiert. Man erforschte antifeudalistische Bewegungen und Träger von utopischen Idealen, die mit dem Kommunismus verwandt waren. Kitesch konnte so als die Utopie von einer gerechten Gesellschaft gesehen werden.

Der kommunistische Heilsstaat hatte keine religiöse Basis, schien aber die sozial-religiösen Ideale der russischen Bevölkerung anzusprechen. Auf dem Land kannte man ein starkes Gemeinschaftsgefühl und in den Dörfern und Städten schufen Bauern, Handwerker und Zunftsmitglieder oft kooperative Formen der Zusammenarbeit (Artels). Diese Ideale der Brüderlichkeit und Gerechtigkeit wurden auf den Aufbau einer neuen Industriegesellschaft gerichtet, die von einer Elite von Parteikommissaren geführt werden sollte. In demjenigen, was daraus entstanden ist, kann man das Gegenbild der Stadt Kitesch finden.

Der Terror, den die Partei auf das Volk ausgeübt hat, hat in der Geschichte noch nicht seinesgleichen gefunden. Millionen und Abermillionen von Menschen sind das Opfer des Versuchs geworden, eine klassenlose Gesellschaft zu begründen. Die alte russische Kultur ist dabei fast gänzlich vernichtet worden. Durch die brutale Macht des Systems und die Korruption der Führer ist eine moralische Desintegration aufgetreten, in der soziale Ideale ihre Bedeutung verloren haben. Nach dem Zusammenbruch des Kommunismus geht die kulturelle und moralische Desintegration im Zeichen der freien Marktwirtschaft weiter. Hierbei spielen die amerikanischen Fernsehprogramme und Filme eine wichtige Rolle. Die meisten Mitglieder der Intelligenzija leben in bescheidenen finanziellen Verhältnissen und die russische Bevölkerung ist mit etwa einer Million pro Jahr rückläufig. Viele fragen sich, ob das russische Volk als Kulturvolk noch überleben kann und nicht total degenerieren wird. Denn das kapitalistische Experiment, das nach dem sozialistischen jetzt in Rußland eingeführt wurde, kann das Menschliche vernichten und die ganze Gesellschaft kriminalisieren, wenn keine spirituelle Erneuerung kommt.

In dem Bild des sozialen Lebens, das die Partei in Rußland geschaffen hat, lassen sich verschiedene Schichten unterscheiden. Als erstes hat man das Bild der Horde. Das ist das Bild der Steppengesellschaft, in der das Individuum vollständig in der Masse aufgeht. Es mußte eine neue Gesellschaft aus Sowjetmenschen entstehen, die kein Bewußtsein mehr von ihrer nationalen Herkunft hatten. Manche Klassen konnten keinen Platz darin finden und darum wurden sie aus dem Weg geräumt. Freie Bauern, Kaufleute, freie Zunftsmitglieder, Aristokraten wurden nicht aufgrund ihrer Individualität umgebracht, sondern weil sie einer unerwünschten Klasse angehörten und somit Volksfeinde waren. Trotzki spielte sogar mit der Idee, die ganze Gesellschaft zu militarisieren und jeden in eine Arbeitsbrigade aufzunehmen, die unter militärischer Zucht die Arbeit ausführen müßte, die der Staat ihr auftragen würde.

Diese Idee weist eine gewisse Verwandtschaft auf mit dem Experiment, das die Jesuiten im 17. Jahrhundert in Paraguay organisiert hatten. Sie nahmen die Indianer, die noch fast wie in der Steinzeit lebten, in ein Plantagensystem auf, in dem sie selbst die Erzieher und Aufseher waren. Wegen des starken Gruppenbewußtseins der Indianer und der guten Methoden der Jesuiten wurde das ein großer wirtschaftlicher Erfolg. In diesem Bild einer Sklavengesellschaft, in der es kein individuelles Bewußtsein gibt und die auf die ökonomische Entwicklung ausgerichtet ist, liegt eine zweite Schicht des sozialen Ideals der Bolschewisten.

Die dritte Schicht hängt mit dem westlichen Bild der sozialen Ordnung zusammen, das in der modernen materialistischen Wissenschaft entstanden ist. Die Wissenschaft hat entdeckt, wie die Gesellschaft über soziale Techniken manipuliert werden kann. Stalin und Hitler wußten auch, wie das gemacht wird, aber sie taten es auf eine noch durchschaubare, schwarzmagische Weise. Es gibt jetzt subtilere Techniken der Massenmanipulation, die meistens auf der alten römischen Idee «Brot und Spiele» basieren: gib den Menschen, was sie wollen, mach sie glücklich, und sie werden gehorchen. Man kommt hier in den Bereich der manipulierbaren Instinkte und des kollektiven Unbewußten. Das ist das Gebiet des «Untersozialen», in dem das Bild der mit Hilfe der Massenmedien manipulierbaren Gesellschaft durch die Forschungen der Sozialpsychologen in Ost und West weiter verfeinert wird.

Mit dem sozialistischen Experiment trat eine neue Phase der Vernichtung des russischen Rechts ein. Das ist ein jahrhundertelanger Prozeß, der schon im 12. Jahrhundert eingesetzt hat und der die russische Bevölkerung Schritt für Schritt zu Sklaven gemacht hat. Bis dahin hatte Rußland ein mit anderen Ländern Europas vergleichbares Rechtssystem mit monarchistischen, aristokratischen und demokratischen Elementen. Die Rechtstraditionen entstammten dem slawischen Gewohnheitsrecht, dem skandinavischen Recht oder kamen aus Byzanz.

In den alten Chroniken wird beschrieben, wie die Fürsten einen Vertrag mit dem Volk abschlossen. Aufgrund dieses Vertrags konnte eine Stadt seinen Fürsten vertreiben. Die Bauern waren noch zum größten Teil frei, bis sie mit der Entwicklung des Feudalismus ihre Freiheit nach und nach verloren. In der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts legte Fürst Jaroslaw der Weise zahlreiche Rechte in der «Russkaja Prawda» fest. Von Todesstrafe ist nirgends die Rede und nur Sklaven und Räuber konnten Leibesstrafen auferlegt bekommen. In diesen Gesetzen drückten sich das Rechtsbewußtsein und die Machtverhältnisse aus. Bei der Gründung des neuen Rußlands im Nordosten wurden in den Städten keine demokratischen Volksversammlungen zugelassen. Nur in den Städten des Nordens konnten die freien Bewohner, vor allem der Adel und die reichen Bürger, demokratischen Einfluß ausüben. Einige Jahrhunderte lang hatten sie die Macht in der Hand, bis das Moskauer Fürstentum dieses Gebiet eroberte.

Um ihre Alleinherrschaft festigen zu können, mußten die Fürsten von Moskau ihren Druck auf die Kirche verstärken und die Bojaren unterwerfen. Großfürst Iwan III. eroberte 1478 die Republik Nowgorod und kurz danach ließ er sich von Josef von Wolokolamsk Stellvertreter Gottes auf Erden nennen. Die Kirche unterwarf sich ihm. Ein Jahrhundert später brach Iwan IV. die Macht der Bojaren. Die Bauern wurden stärker an die Scholle gebunden, was zur Folge hatte, daß viele flüchteten und sich den freien Kosaken anschlossen, die ihre eigenen Rechtstraditionen entwickelten. Die Städte wurden Eigentum der Krone. 1649 wurde die Leibeigenschaft unter dem Zaren Alexej Michailowitsch rechtlich festgelegt und kurz danach bemächtigte sich der Staat unter Peter dem Großen noch stärker der Bauern. Als Leibeigene konnten sie von Industriellen gekauft werden.

In Rußland herrschte das Machtprinzip, während im Westen und in Mitteleuropa das Rechtsprinzip immer stärker wurde. Im Westen verlor der Fürst seine Funktion als Herrscher «durch Gottes Gnaden», die römische Kirche ließ sich nicht von der politischen Macht unterwerfen und nahm eine autonome Position ein, und es entwickelten sich freie Städte mit einem freien Bürgertum, das ein eigenes Rechtsgebiet hatte. In Rußland haben diese Entwicklungen nicht stattgefunden und die Versuche, dies nachzuholen, sind mißglückt. Katharina die Große hat in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zwar versucht, Reformen im Sinne der westeuropäischen Aufklärung durchzuführen, aber sie konnte das Rechtssystem nicht verändern. Im Gegenteil, ihre Politik verleitete sogar die Bauern zu Aufständen. Alexander II. hat 1861 die Leibeigenschaft aufgehoben, aber die Bauern hatten damit nicht gleiche Rechte. Sie blieben von der Dorfgemeinschaft abhängig und konnten nur mit deren Zustimmung das Dorf verlassen.

Nach der Russischen Revolution wurde das Recht gänzlich durch Machtwillkür ersetzt. Auch nach Gorbatschow bleibt das Recht eine Gunst, die man sich in einem korrupten Beamtenapparat meistens erkaufen muß. Es hat sich in dieser langen Geschichte der Entrechtung kein Rechtsbewußtsein bilden können. Das ist es, was das heutige russische gesellschaftliche Leben zu einem Chaos macht, in dem niemand Rechte hat, jeder sich sein Recht nehmen muß und die Machthaber über Dekrete regieren, die keinerlei Bedeutung haben. Unter Jeltzin ist eine totale Anarchie entstanden, in der nur verschlagene Leute ihr Glück machen.8 Die «Diktatur des Gesetzes», die Putin gebracht hat, kann nur der erste Schritt zur Schaffung von normalen Verhältnissen sein.

Pilger auf dem Weg nach Kitesch

Im russischen Bewußtsein gab es keinen scharfen Unterschied zwischen der religiösen und der sozial-politischen Sphäre. Der Einfall der Tataren konnte so als eine Strafe Gottes betrachtet werden. Auch die sozialen Verhältnisse wurden mehr aus einem religiösen und moralischen Gefühl als aus dem Rechtsgefühl heraus beurteilt. Auf Unrecht wurde mit religiöser Empörung reagiert. Soziale Konflikte konnten dann auch zu religiösen Aufständen führen und die gerechte Gesellschaft wurde als die Verwirklichung des wahren Christentums angesehen. Jahrhundertelang sind entrechtete und geflüchtete Bauern auf die Suche nach einer besseren Gesellschaft, nach dem Paradies auf Erden gegangen. Für viele war das eine Pilgerfahrt in die Stadt Kitesch.

Nach der Kirchenspaltung von 1667 sind viele Altgläubige in die weit entfernten Gebiete Rußlands ausgewichen. Das Land hinter der Wolga war eines ihrer Zentren. Sie sind es, die die Legende von der Stadt Kitesch in ihrer heutigen Form geschaffen haben. Daniil Andrejew sagt darüber: “Es war selbstverständlich, daß die Legende diese Stadt der Frommen an die Ufer des Sees Swetlojar versetzte, gerade in die dichten Wälder an derjenigen Uferseite der Wolga, die von alters her erleuchtet wurde von den Ikonenlämpchen der Einsiedler, der Heiligen Gottes, die dort lebten. Ihre Verbindung mit der äußeren Welt lief über die Stadt Klein Kitesch - das Symbol der historischen Kirche mit ihren menschlichen Schwächen, einer Kirche, deren authentisches spirituelles Wesen durch den nebligen, kompakten und sensiblen orthodoxen «Egregor» (d.h. das Schattenwesen der Kirche) für die suchenden Seelen verborgen, getrübt und verdreht wird. Unter den Schlägen eines plötzlich von außen heranschnellenden Feindes kommt die historische Kirche um.”9

Groß Kitesch ist dann das Symbol der inneren, spirituellen Kirche, die in der offiziellen Kirche nicht mehr zu finden ist. Sie wird bis in unsere Zeit hinein gesucht von vielen Generationen russischer Pilger und frommer Sucher nach dem Spirituellen, wie etwa die Kreise um die Rosenkreuzer Nowikow und Lopuchin, die Philosophen und Dissidenten. 1843 wurde in Moskau von dem Forscher Meledin erstmalig eine Beschreibung der Kitesch-Legende und der Bräuche der Pilger publiziert. Manche von ihnen rutschen dreimal auf den Knien um den See herum, und wenn ihre Seele rein genug ist, hören sie aus dem Wasser die Glocken der Stadt Kitesch oder sie sehen sie durch das Wasser hindurch. 1874 vollendete Melnikow seinen bekannten Roman «In den Wäldern», der von dem Leben der Altgläubigen in der Umgebung von Swetlojar handelt.

Viele andere Schriftsteller und Dichter haben seitdem eine Reise nach Swetlojar gemacht und Kitesch als literarisches Motiv verwendet.

Dostojewski und Solowjow haben das Bild der unsichtbaren Stadt in ihrem Werk nicht gebraucht, aber auch sie waren auf der Suche nach der spirituellen Kirche. Sie lebten in einer Zeit, in der die Philosophen begannen, über die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens nachzudenken, und sahen, wie die Neigung, von revolutionärer Gewalt Gebrauch zu machen, immer stärker wurde. Sie stellten ihre russische Idee dem gegenüber. Dostojewski sah diese Idee als die Versöhnung und Vereinigung der Völker, die die Russen auf der Basis der brüderlichen Liebe zustande bringen können. In seiner «Erzählung vom Großinquisitor» aus dem Jahre 1880 stellte er die Freiheit, die Christus gebracht hat, der autoritären Macht der katholischen Kirche gegenüber. Der Inquisitor machte Christus zum Vorwurf, daß er den Menschen die Last der Freiheit gegeben hat, obgleich sie lieber in Unfreiheit glücklich wären.

Zur selben Zeit sprach Solowjow in seinen «Vorlesungen über das Gottmenschentum» von der Entwicklung einer spirituellen Menschheit unter dem Einfluß der Sophia. Das war seine Vorstellung von der russischen Idee: die Gesellschaft als eine Gemeinschaft, in der der Christus unter den Menschen lebt. Später arbeitete er dies noch weiter aus in seiner Idee von einer «freien Theokratie», in der alle Kirchen sich vereinigen sollen. In seinen Erwartungen an die Kirchen als Institution enttäuscht, begann er über das neue Christentum des Heiligen Geistes zu sprechen. Am Ende seines Lebens sah er voraus, daß die Menschheit erst die Konfrontation mit dem Antichrist durchstehen muß, bevor sie sich innerhalb der neuen Kirche vereinigen kann.

Nach dem Tod Solowjows bekam das Suchen nach der Gesellschaft der Zukunft auch eine musikalische Dimension. 1903 wurde die Oper-Kantate «Die Legende von der Stadt Groß Kitesch und dem stillen See Swetlojar» von Sergej Wassilenko aufgeführt. Viel mehr Eindruck machte 1906 die Oper «Die Legende der unsichtbaren Stadt Kitesch und der Jungfrau Fewronia» von Nikolai Rimski-Korssakow, die unmittelbar als russische Antwort auf das Werk Richard Wagners erfahren wurde. Das ist verständlich, denn die Oper hat einen religiös-liturgischen Charakter. Die Ideen der Aufopferung und der Rettung durch Gott werden hier zum Ausdruck gebracht.

In der Oper heilt die einfache Jungfrau Fewronia Prinz Wsewolod, den Sohn des Begründers von Kitesch, Juri Wsewolodowitsch. Er hält um ihre Hand an. Auf dem Weg zum Hochzeitsfest wird sie in Klein Kitesch von dem Trunkenbold Grischka Kutjerma beschimpft. Das Fest wird dann von den Tataren gestört. Fewronia wird gefangengenommen und Grischka verrät den Weg nach Groß Kitesch. Sie bittet Gott, die Stadt unsichtbar zu machen. Auch in Groß Kitesch betet das Volk zu Maria, die Stadt mit ihrem Mantel zu bedecken. Der Prinz kommt um, und die Stadt wird in Nebel gehüllt. Fewronia befreit Grischka, der dem Volk gesagt hat, sie habe Kitesch verraten, und nimmt sein Los auf sich. Beide sterben im Wald vor Erschöpfung. Die Stadt verschwindet unter dem Läuten der Glocken im See. Prinz Wsewolod kommt ihr entgegen, um mit ihr im himmlischen Kitesch nachträglich die Hochzeit zu feiern, und nachdem sie Grischka einen Brief geschrieben hat, um ihm zu sagen, wie er Kitesch finden kann, wird sie Königin der Stadt Kitesch.

1918 hat der russische Anthroposoph Nikolai Belozwetow in seinem «Buch über den russischen Gral» eine spirituelle Analyse der Oper gemacht. Kitesch ist für ihn das Bild der göttlichen Gemeinschaft, Prinz Wsewolod steht für den russischen Volksgeist und Fewronia ist das Symbol der russischen Kirche. Der in St Petersburg geborene, estnische Anthroposoph Valentin Tomberg hat den mitteleuropäischen Leser 1931 mit der Legende bekannt gemacht.10 Tomberg sah die Legende als einen Traum von der schlafenden russischen Volksseele und als die Offenbarung der wesentlichen Kräfte dieser Seele. Vergleicht man die Legende mit Goethes «Faust», so geht es nicht um den Weg des nach Erlösung strebenden Helden, sondern um den Weg einer Gemeinschaft. Fewronia erträgt unverdientes Leid um der Zukunft der Stadt willen.

Unverdientes Leiden ist eine Vorbereitung auf die Zukunft der Menschheit, sagt Tomberg. Kitesch weist für ihn auf die kommende russische Kultur, die die Menschheit brüderlich verbinden will. Den Weg zu dieser Kultur vergleicht er an anderer Stelle in seinem Werk mit dem Zug der Israeliten durch die Wüste auf der Suche nach dem Gelobten Land.

Für den Seher Daniil Andrejew war Kitesch ein Bild des Heiligen Rußland. Das Musik-Mysterienspiel von Rimski-Korssakow betrachtete er als die bislang höchste Stufe der in ständiger Entwicklung begriffenen Legende. Diese Legende spiegelt seiner Meinung nach das Wesentliche der Kirchenspaltung wieder, bei der sich die Altgläubigen abgespalten haben, aber sie gibt ein unvergleichlich tieferes und universelleres Bild als das historische Phänomen des Schismas selbst: dieses Bild zeigt “das Mysterium eines Volkes, einer Kultur oder einer einzelnen individuellen Seele, deren unantastbares, inneres Heiligtum von den Hierarchien des Lichtes beschützt wird, und das für jeden, selbst für den mächtigsten Feind unzugänglich bleibt und vor jeder Invasion und feindlichen Berührung in die geheimen spirituellen Tiefen entflieht.”11

In seiner Interpretation der Kitesch-Legende vergleicht Munin Nederlander die Reise nach Kitesch mit dem physischen Einzug der Israeliten in die Wüste. Jetzt ist es allerdings ein «Einzug in die soziale Wüste», d.h. eine Reise durch die Wüste der sozialen Welt, die freiwillig unternommen wird. Nederlander sieht Kitesch als das spirituelle Zentrum des Manichäismus in Rußland.

Die Oper Rimski-Korssakows hat der Legende ein neues Element hinzugefügt, das einen Bezug zu der manichäischen Tradition der Bogomilen hat. Darin geht es um die Umformung und Erlösung des Bösen. Fewronia verbindet sich mit dem Schicksal des Trunkenboldes Grischka, damit auch er erlöst werden kann.

Wenn Menschen ihr Leben miteinander verbinden und das Leid des Anderen mittragen, dann entstehen Schicksalsgemeinschaften, die es jedem ermöglichen, sich als Mensch spirituell zu entwickeln und Bürger der Stadt Kitesch zu werden. Fewronia ist der Mensch, der die Gruppenseele einer Gemeinschaft verkörpert und damit der «heiligen Seele», wie Tomberg es nannte, die Gelegenheit gibt, Liebe, Frieden und Harmonie in eine Gemeinschaft strömen zu lassen. Die Inspiration zu diesen Gemeinschaften geht auf der geistigen Ebene von den Bogomilen aus, die im Nordosten Rußlands das erste Kitesch begründet haben, um eine zukünftige Kultur der Brüderschaft vorzubereiten.

Ein neuer Weg nach Kitesch

Die moderne Wissenschaft hat Techniken entwickelt, um beherrschbare und gut funktionierende Organisationen zu schaffen. Dieses Wissen ist auch für Rußland wichtig. Aber daneben besteht in Rußland ein Bedürfnis nach Kenntnissen für einen Wiederaufbau des sozialen Lebens und eine Schaffung von Gemeinschaften, in denen sich die Menschen brüderlich miteinander verbinden können. Um solche «Kitesch-Gemeinschaften» begründen zu können, bedarf es einer spirituellen Soziologie.

Im alten Rußland gab es solche Gemeinschaften, aber sie wurden vor allem von unbewußten sozialen Kräften und durch Traditionen getragen. Im 20. Jahrhundert sind diese tragenden Kräfte zum großen Teil verwüstet worden. Wegen mangelnden Verständnisses der Dynamik vom Aufbau einer Gemeinschaft fallen die Gruppen immer wieder auseinander. Es scheint mir von fundamentaler Bedeutung zu sein, daß diese sozialen Kräfte jetzt bewußt entwickelt werden und daß neue Traditionen geschaffen werden. Dieser Weg ist noch lang, aber nicht utopisch. Ihn zu gehen, gehört gerade zu den wesentlichen Aufgaben der russischen Kultur.

Veröffentlicht im Festschrift für Professor Michail Popov (2008)


Anmerkungen

  1. Maximilian Woloschin, «Kitesch», in: Sredototsche wsech putej, Moskau 1989, S. 91-93.
  2. W.L. Komarowitsch, Kiteschskaja legenda, Moskau 1936.
  3. W.P. Schestakow, «Eschatologitscheskije motowi w legende o grade Kitesche», in: Eschatologija i utopija, Moskau 1977.
  4. Mark Barinow, «Doroga na grad Kitesch», in: Smena, 1969/14.
  5. Arja Ahlquist, «Kizhila ja Kinela», in: Oekeeta asijoo, Mémoires de la Société Finno-Ougrienne, 228, Helsinki 1998. S. 12-25.
  6. Munin Nederlander, Kitezh and the Russian Grail Legends, London 1991.
  7. A.I. Klibanow, Narodnaja sozialnaja utopija w Rossii, Moskau 1977, S. 219f und 298.
  8. Christian Schmidt-Häuser, Rußland in Aufruhr, München 1993.
  9. Daniil Andrejew, Rosa Mira, Moskau 1991, S. 150.
  10. Valentin Tomberg, «Die Sage von der Stadt Kitesch als Offenbarung der Wesenskräfte der russischen Volksseele», in: Anthroposophie, 13. Jahrgang Nr. 12 (22.3.1931), S. 90.
  11. Daniil Andrejew, Rosa Mira, Moskau 1991, S. 150.

 

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