Transhumanismus und die Gefahr der Optimierung 

Roland Benedikter

Über Menschen

Eine neue Industrie arbeitet daran, Maschinen in den menschlichen Körper zu integrieren. Doch so schön der Traum vom Überwinden alter Grenzen klingt, so gefährlich ist er auch.

Nicht nur Martin Heidegger war der Meinung, dass wir uns einer Grenze der gegenseitigen Beziehung – ja, Verbindung – nähern, die sowohl Mensch als auch Maschine in Frage stellen wird. Diese Frage beschäftigt auch viele heutige Denker wie Colin McGill, Adam Keiper, Nick Bostrom, Kevin Warwick, Steven Pinker oder Bill Joy. Doch worum geht es eigentlich?

Der technologische Wandel stellt unser bisheriges Selbstverständnis als Menschen nicht mehr nur peripher, sondern mittlerweile substanziell zur Disposition. Was wir bisher als menschliche Identität, als Conditio humana, begriffen haben, wird zunehmend in Frage gestellt. Die neueste Generation von Neurotechnologie zum Beispiel setzt darauf, die Freiheit des Menschen zu steigern, indem sie in unseren Körper eindringt, um dessen Grenzen zu überwinden. Durch Gehirnimplantate sind wir bereits heute in der Lage, Mensch und Maschine direkt auf neuronaler Ebene miteinander interagieren zu lassen.

Die Hoffnung ist, dass wir künftig global mittels Gehirn-Maschine-Interaktion universal aktiv sein können, ohne uns dabei vom Stuhl zu bewegen. Viele Menschen tragen bereits Sendermodule unter der Haut, die Daten zum Blutdruck oder zur Hormonausschüttung übertragen. Und das Militär experimentiert mit Technologien, um Soldaten leistungsfähiger und stressresistenter zu machen oder sie gleich direkt durch Drohnen zu ersetzen.

Niemand weiß jedoch, was das mit dem Menschen und seinem Selbstbild macht, wenn wir uns derart unserer physischen und physiologischen Grenzen entledigen. Denn die Verschmelzung von menschlichem Bewusstsein und Technologie verändert sowohl die Technologie als auch den Menschen. Die Frage ist, ob dabei die Technologie menschlicher oder der Mensch technischer wird.

Der Körper steht dabei im Mittelpunkt. Die Technik bleibt nicht wie bisher draußen und damit ein Objekt des Menschen, sondern sie dringt in seinen Körper ein, verbindet sich mit ihm, wird zu einem Teil des Menschseins. Das ist einzigartig in der Evolutionsgeschichte. Die große Unbekannte ist, ob wir diese derzeit vor allem durch Gesundheits- und Rüstungsinteressen vorangetriebene Entwicklung sinnvoll steuern können.

Der Wandel wird durch neue Ideologien angetrieben. Die wichtigste dieser Ideologien ist der Transhumanismus, eine Weltanschauung, die den Menschen ins Jenseits des bisherigen Menschen führen will, indem sie ihn mit der Technologie verschmilzt. Diese Denkschule hat ihren Sitz an der Universität Oxford und kämpft heute gegen die humanistischen Strömungen, die den Menschen in seiner bisherigen Form erhalten wollen, um ihn besser zu verstehen.

Während der Transhumanismus so schnell wie möglich über den Menschen hinaus will, plädiert der Humanismus dafür, den Menschen zunächst noch weiter kennenzulernen, weil wir im Grunde noch sehr wenig über ihn wissen und zum Beispiel die „Ich“-Forschung, das heißt die Erforschung des „bewussten Bewusstseins“, erst ganz am Anfang steht.

Technologie als Ersatz für Kultur

Doch der Transhumanismus entfaltet heute einen starken Energieimpuls. Ziel der zunehmenden transhumanistischen Verschränkung von Mensch und Maschine ist es, das Leid und Elend der bisherigen menschlichen Verfassung zu mindern. Ein Hybridwesen mit Implantaten oder Prothesen hat, laut Transhumanisten wie Nick Bostrom, Direktor des „Future of Humanity Institute“ an der Universität Oxford, mehr Möglichkeiten der Informationsverarbeitung oder eine gesteigerte Gedächtnisleistung. Genmanipulation und Genselektion könnten, so seine Sichtweise, eventuell Krankheiten und Alterungsprozesse verhindern. Gelöst wäre damit aus Sicht der Transhumanisten ein grundlegendes Problem menschlicher Existenz: In der 200.000-jährigen Geschichte des Homo sapiens sind wir immer Sklaven unserer naturgegebenen Fähigkeiten gewesen. Doch in den letzten 30 Jahren haben wir die durchschnittliche Lebenszeit deutlich erhöht und sind sogar in den Weltraum vorgestoßen.

Viele Menschen setzen große Hoffnungen in diese Entwicklungen. Doch viele Menschen haben zu Recht auch Angst vor einer solchen Zukunft. Die Implikation: Bisherige Kulturleistungen werden abgewertet und in Frage gestellt. Kulturgeschichte, Literatur, Kunst, Religionen und Philosophien erscheinen lediglich als künstliche Sinngebungen in der Epoche des alten „natürlichen“ Menschen. Der neue Mensch wird sie nicht mehr brauchen. Er wird Kultur immer stärker durch Technologie ersetzen, wie bereits heute in den neuen Kommunikationstechnologien ersichtlich, sich damit global angleichen und entnationalisieren, aber auch bisherige Sinnentwürfe und Ethiken des Zusammenlebens über Bord werfen.

Damit verändert sich alles: nicht nur das grundlegende Bild des Menschen von sich selbst, das stets für seine Gegenwart und Zukunft ausschlaggebend war, sondern auch das, was wir bisher als Zivilisation bezeichnet haben. Die Geschwindigkeit dieser Entwicklungen ist zum Teil atemberaubend. Viele fürchten, dass ein Großteil der transhumanistischen Vorreiter der neuen, „inversiven“ Humantechnologien gar nicht weiß, welche Auswirkungen ihre Arbeit haben wird.

Deshalb: Bedeutender als alle politischen Umbrüche und militärischen Konflikte ist derzeit die Entstehung einer globalen Industrie der Verschmelzung von Mensch und Maschine. Experimente sind dabei gut. Fahrlässiges Experimentieren am Menschen ist es nicht.

Der entscheidende Punkt ist, dass wir noch gar nicht genug über uns selbst wissen, um das derzeitige Menschenbild vorschnell aufzugeben oder uns, wie es die Transhumanisten wünschen, baldmöglichst in Cyborgs zu verwandeln. Was bedeutet es beispielsweise, etwas zu „wissen“? Ist es möglich, Wissen als personalisierten Algorithmus ins Netz zu überspielen, wo es dann als „reiner Geist“ ohne Körper existiert? Solche abenteuerlichen Hoffnungen halte ich für bedenklich. Denn die Auslagerung von Wissen verändert auch das „Ich“, das dieses Wissen abgibt oder aufnimmt.

Statt Transhumanismus brauchen wir einen Neohumanismus, bei dem der bisherige Mensch, insbesondere das bisherige „Ich“, nicht unbedacht aufgegeben, sondern behutsam weiterentwickelt wird. Wir müssen unser Selbstverständnis daher bis auf Weiteres zumindest in gewissen Grenzen vor dem Zugriff der Technologie schützen. Im „Ich“ liegt, was die Menschheit erreichen kann, was ihr Sinn und Abgrund ist. Wir müssen mehr über dieses „Ich“ herausfinden. Das ist die größte Aufgabe der kommenden Jahre.


Roland Benedikter ist ein Politikwissenschaftler und Soziologe. Er hat eine Forschungsprofessur für Multidisziplinäre Politikanalyse am Willy Brandt Zentrum der Universität Wroclaw-Breslau und ist seit 2017 Co-Leiter des Centers for Advanced Studies von Eurac Research.

Entnommen aus: https://www.theeuropean.de/roland-benedikter/5982-transhumanismus-und-die-gefahr-der-optimierung, 24.03.2013.

 

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