Beziehungen - Probleme 

Wie entsteht wirklicher Kontakt zwischen Menschen?  

Margarete van den Brink

Übersetzung Christine Roth

Zusammenleben und zusammenarbeiten scheint mit jedem Tag schwieriger zu werden. Bevor man es weiß, ist die Rede von einem Missverständnis oder einem Konflikt. Eine von drei Ehen endet gegenwärtig in einer Scheidung. In Partnerbeziehungen liegt die Trennungsrate noch höher.

Wenn man die Betroffenen fragt, warum sie auseinandergehen, antworten sie: „Wir können uns nicht erreichen“ oder „Wir begreifen einander nicht“. Die Kluft zwischen ihnen ist offensichtlich so groß, dass sie keine Verbindung mehr erfahren können, und keine Ahnung haben, wie sie den Abgrund zwischen sich überbrücken können.

Warum ist der Kontakt von Mensch zu Mensch gegenwärtig ein solches Problem?

Der Grund ist, dass wir Menschen, evolutionär gesehen, in eine neue Entwicklungsphase eingetreten sind. Denn nicht nur der Einzelne, sondern auch die gesamte Menschheit durchläuft auf der Erde eine Entwicklung. Die Entwicklung verläuft in Phasen. In jeder dieser Menschheitsphasen verändert sich das Verhältnis zwischen den Menschen. Und jede von ihnen verlangt eine andere Weise des Umgangs miteinander.

Was passiert da?

Gruppenmensch

Es ist gar nicht so lange her, da bestanden die Probleme, wie wir sie gegenwärtig kennen, noch nicht so deutlich. In der Zeit unserer Großeltern und davor traten Menschen viel leichter in Kontakt miteinander und fühlten sich fast selbstverständlich miteinander verbunden.

Der Grund dafür ist, dass sie noch nicht so individualisiert waren wie wir in unserer Zeit.

Die Menschen waren noch viel mehr Gruppenmenschen. Das bedeutet, sie waren innerlich noch sehr verbunden mit den Mitgliedern der Gruppe zu der sie gehörten: der eigenen Familie, der eigenen Glaubensgruppe, der Dorfgemeinschaft und dergleichen.

Weil ihr Ich-Bewusstsein noch nicht so ausgeprägt war, wurde ihr Denken, ihr Erleben und ihr Tun und Lassen stark bestimmt durch das traditionelle Denken und die Werte und Normen der Gruppe, zu der sie gehörten. So wie die anderen über die Dinge dachten, so dachte man als Einzelner meistens auch.

Ich-Entwicklung

In den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts veränderte sich dieser Zustand allmählich. Nicht länger waren der Familienname („von wem bist du?“) und der Beruf des Vaters wichtig, sondern der eigene Vorname: Joachim oder Brigitte.

Das zeigt, dass das persönliche Element eine Rolle zu spielen begann. In der Menschheitsgeschichte erwachte auf der evolutionären Ebene das eigene Persönlichkeits- oder Ich-Bewusstsein. Die Ich-Entwicklung bewirkt, dass Menschen sich mehr als eine Person, sozusagen als Individuum, beginnen zu erleben, das sich auch unabhängig von seiner (Familien)gruppe behaupten und sein eigenes Leben gestalten kann.

Das führt dazu, dass das eigene Denken, das eigene Gefühl und das eigene Wollen und Handeln eine zentrale Rolle spielen. Menschen werden „mündig“. Sie bekommen eine eigene Meinung, haben ihren eigenen Standpunkt, erleben Dinge anders als die anderen und wollen vor allem frei sein. Das bedeutet, selbst Entscheidungen treffen zu können und selbst Verantwortung zu tragen.

Eingreifende Veränderungen

Auf dem Gebiet der sozialen zwischenmenschlichen Beziehungen brachte die Ich-Entwicklung jedoch eingreifende Veränderungen mit sich. Die erste ist, dass man sich als Einzelner immer mehr in sich selbst einkapselt. Das heißt, dass man nicht länger automatisch denkt und fühlt wie die anderen, sondern als Individuum immer mehr in den eigenen Vorstellungen, Auffassungen, Gefühlen und Handlungsweisen lebt.

Die zweite Veränderung bewirkt, dass man sich durch die Einkapselung im eigenen Ich mehr und mehr von den Menschen um einen herum abschirmt, auch von den Menschen mit denen man eine Familie bildet.

Die Folge dieser Veränderungen ist, dass die Verbindung zu anderen Menschen und gegenseitiges Verständnis nicht länger selbstverständlich sind. Im Gegenteil, durch diesen Individualisierungsprozess wird die Kluft zwischen dem einen und dem anderen immer größer. Das geschieht vor allem in der westlichen Welt. Doch wer acht gibt, kann den gleichen Prozess auch in anderen Teilen der Welt beobachten.

Ego-Ich

Das Ich, über das wir hier sprechen, nennen wir das Ego-Ich. Das Ego-Ich ist der auf sich selbst gerichtete und sich selbst bezogene Teil des Ichs. Das Ego-Ich brauchen wir, um ein Individuum werden zu können. Individuum sein, Ich-Mensch sein, ist an sich wieder eine Bedingung, um Träger des inneren Geistes werden zu können: des geistigen Selbst, unseres wirklichen, wahren Wesens, auch das höhere Selbst oder Geistselbst genannt.

Darum formt der Prozess der Individualisierung, der Ich-Werdung, mit dem wir es gegenwärtig so stark zu tun haben, einen wichtigen Teil unserer menschlichen Evolution. Um sein Ziel erreichen zu können, hat das Ego-Ich notwendigerweise egozentrischen Charakter, ist also nicht sozial. Als Ego-Ich-Mensch will man zu sich holen - will man haben. Andauernd setzt man sich selbst in das Zentrum der Aufmerksamkeit.

Deshalb dreht sich durch mein Ego-Ich in meinem Leben alles um mich, um meine Gefühle, Wahrnehmungen, Fragen, Meinungen, Wünsche, etc. und darum, wie ich es will und darum, was ich erreichen will.

Jeder, der offen und ehrlich zu sich selber ist, wird das erkennen.

Geistiges Selbst

Mit dieser allmählich zunehmenden Manifestation des Ego-Ichs in den Sechzigerjahren des vorigen Jahrhunderts trat noch eine andere Entwicklung zutage. Denn wiederum begann eine neue evolutionäre Phase. Die neue Phase beinhaltet, dass in dem Ich, dem Persönlichkeits-Ich, wovon das Ego-Ich ein Teil ist, das geistige Selbst geboren werden will, unser wirklicher geistiger Kern; der Mensch, der wir im tiefsten Wesen sind.

Die Merkmale des geistigen Selbst sind: umfassendes Bewusstsein, Wahrhaftigkeit, Gerechtigkeit, Verbundenheit mit allem, was lebt, Freiheit und Liebe. Verbundenheit also aus dem Bewusstsein heraus. Diese Eigenschaften besitzt das geistige Selbst, weil es einen Teil des Göttlichen darstellt: den Heiligen Geist, der von Christus ausgeht. Darum ist der Kern des höheren Selbst aktives, kreatives, allumfassendes Bewusstsein, das uns frei machen kann und deshalb neue Verbindungen zwischen Menschen kreieren kann.

Ich verwende das Wort „kann“, weil wir uns diese göttlich-geistige Bewusstseinskraft noch nicht angeeignet haben. Wir „besitzen“ sie noch nicht. Sie lebt als Möglichkeit in uns, doch wir müssen sie selbst – durch arbeiten an uns selbst - Schritt für Schritt bewusst zur Entfaltung und Wirkung bringen. Mit dieser Aufgabe sind wir in unserer Zeit vollauf beschäftigt.

Krise

Als Folge dieser neuen Entwicklungen und Ereignisse, hauptsächlich durch das Wachwerden unseres inneren geistigen Selbst, geraten Menschen immer öfter in eine existenzielle Krise. Sie sind festgefahren, fühlen sich in sich selbst eingeschlossen und erfahren ihre Existenz als leer. Sie sehen ihre Beziehungen durch Konflikte auseinanderbrechen und kennen den Weg in ihrem Leben nicht mehr.

Gleichzeitig steigen aus der inneren Tiefe fundamentale Fragen auf wie: “Worum geht es im Leben? Wo kommen wir her? Wohin gehen wir? Wer bin ich eigentlich? Warum lebe ich auf der Erde?“ Fragen, in denen die Stimme des höheren, geistigen Selbst durchklinkt. Es macht auf sich aufmerksam, weil es wahrgenommen, erkannt und verinnerlicht werden will, so dass es Teil von unserem Ich, von unserer Persönlichkeit, werden kann; und damit von unserem zukünftigen Menschsein.

Komplizierte Beziehungen

All diese neuen Entwicklungen bewirken allerdings, dass in unserer Zeit die Beziehungen mit anderen Menschen außerordentlich kompliziert geworden sind. Warum? Weil wir unbewusst davon ausgehen, dass der andere uns selbstverständlich spürt und begreift. Wenn das nicht der Fall ist, sind wir fassungslos und ärgerlich. Will er oder sie mich vielleicht nicht verstehen?

So wird der erste Schritt in Richtung Missverständnis, Misstrauen und Konflikt getan.

Warum läuft es verkehrt? Es läuft schief, weil wir in unserem Kontakt mit anderen Menschen immer noch von der alten Gruppenphase ausgehen, in der gegenseitiges Verständnis viel selbstverständlicher war. Was wir uns unvollständig vergegenwärtigen, ist, dass wir in unserer Zeit der Individualisierung und Ich-Entwicklung nicht nur mehr und mehr in uns selbst eingekapselt und von den anderen ausgeschlossen sind, sondern auch bezogen auf die Persönlichkeit uns stark voneinander unterscheiden. Das bedeutet, dass das selbstverständliche gegenseitige Verstehen aufhören und verschwinden wird. Ja, es wird sogar so werden, dass sich Nichterreichen und -begreifen können der übliche Zustand zwischen Menschen wird.

Bedürfnis nach wirklichem Kontakt

Gleichzeitig wird das Bedürfnis nach wirklichem Kontakt zu anderen Menschen täglich größer. Nicht allein wegen der zunehmenden Einsamkeit, sondern auch weil Menschen aufgrund der Fragen, die sie bewegen, ein tiefes Bedürfnis nach Reflexion haben. Sie wollen sich nach innen kehren, in das eigene Innere, und sich der Erfahrungen, Gefühle, Gedanken, Fragen und Sehnsüchte, die da leben, bewusst werden und sie kennenlernen. Mit anderen Worten: Sie wollen die Brücke zu ihrem tieferen geistigen Kern erschaffen. Um dann aus einer tieferen Einsicht heraus bewusster mit sich selbst, dem Leben und anderen Menschen umzugehen. Der Prozess der Verinnerlichung, der in uns abläuft, sorgt dafür, dass wir in tiefere Schichten von uns vordringen wollen und von da aus leben wollen.

Wie bekommt man Verbindung mit dem, was in einem lebt und bewusst werden will?

Wirkliches Gespräch

Die Verbindung bekommt man in einem wirklichen Gespräch. In einem Gespräch mit sich selbst beispielsweise. Deshalb ist das Führen eines Tagebuchs effektiv. Aber vor allem ist da das Bedürfnis nach einem echten Gespräch mit einem anderen Menschen. Einem anderen Menschen, der in seinem oder ihrem Herzen Platz für einen macht, gute Fragen stellt und der wirklich zuhört. Passiert das, dann kann man sich nach innen kehren, fühlen und nachdenken was dort geschieht und es aussprechen. So lernt man nicht nur sich selbst kennen, sondern es wird – und das ist das Besondere – auch das innere geistige Selbst geweckt. Das merkt man dann deutlich. Denn nach einem solchen Gespräch fühlt man sich harmonischer, freier, froher und innerlich gestärkt. Gefühle, die kennzeichnend sind für den Kontakt mit dem inneren Geist. Das zeigt, dass im Inneren etwas von einer Transformation stattgefunden hat. Die neuen Gefühle weisen darauf hin, dass mehr Kraft des inneren Geistes in unserem Ich wirkt.

Irgendwann, in der fernen Zukunft, wird unser Ego-Ich auf diese Weise Schritt für Schritt vollständig in die Geisteskraft des höheren Selbst transformiert sein.

Das Vorangegangene macht deutlich, warum in unserer Zeit, in der das geistige Element in uns geboren werden will, das tiefe Bedürfnis nach wirklichem Kontakt mit jedem Tag stärker wird.

Und so landen wir wieder bei den Problemen, mit denen Menschen gegenwärtig in Beziehungen zu kämpfen haben.

Auf der einen Seite führt unser Ego-Ich dazu, dass wir in uns selbst verkapselt werden, und dass die Kluft zwischen uns und dem anderen stets größer wird. Auf der anderen Seite sehnen wir uns nach wirklichem Kontakt. Unbewusst fühlen und wissen wir, dass der andere uns helfen kann, innerlich geistig geboren zu werden. Genauso wie wir nach und nach einsehen, dass wir für den anderen von Bedeutung sein können.

Warum geschieht das dann nicht?

Wie kommen wir weiter?

Wollen wir Menschen gemeinsam weiterkommen, dann müssen wir an erster Stelle begreifen, was auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen in unserer Zeit abläuft. Denn nur, wenn man die Erscheinungen kennt und begreift, kann man bewusst eine Wahl treffen und danach handeln.

An zweiter Stelle muss man sehen, wie man automatisch vom Ego-Ich aus mit anderen Menschen umgeht. Genau genommen, müsste man dann zugeben, dass man normalerweise nur an einem anderen Menschen interessiert ist, wenn dieser etwas besitzt, wovon man etwas hat. Mit anderen Worten: Man geht auf diesen Menschen ein, weil er interessante Gedanken hat, er gut aussieht, angenehme Gefühle in einem erzeugt, oder weil er etwas hat oder tut, von dem man möglicherweise einen Vorteil haben könnte. Der andere ist also wichtig, insofern er oder sie uns etwas zu geben hat. Ist es nicht so, dann hat man eigentlich kein Interesse.

Man kann behaupten, dass diese Haltung 98% der zwischenmenschlichen Kontakte betrifft.

Solch ein Kontakt stellt allerdings keine wirkliche Verbindung her. Der andere Mensch fühlt sich normalerweise nicht gesehen, gehört und erkannt. Die Hoffnung darauf stellt sich in dieser als vergeblich gewesen heraus und schlägt in Enttäuschung um. Man erlebt in den Gefühlen von Sympathie und Antipathie faktisch nur sich selbst. Es passiert also nichts. Die Kluft bleibt bestehen.

Der Schritt zu wirklichem Kontakt

Wirklicher Kontakt entsteht durch zwei Aktivitäten. Die eine ist, sich der Neigungen und der Einseitigkeit des eigenen Ego-Ichs bewusst zu sein, und diese verwalten und handhaben zu lernen.

Die zweite ist, dass man auf eine freie Weise, von Herz und Kopf ausgehend, lernt, sich dem anderen aus echtem Interesse an ihm oder ihr als Mensch zu öffnen. Interesse und Verbundenheit bewirken, dass man den anderen hören und kennenlernen will, und ihm die Gelegenheit geben will, sich auszusprechen. In so einem Gespräch benutzt man sein eigenes Denken, um das Denken des anderen zu begreifen, und sein Gefühl, um sich in dessen Gefühle und Erfahrungen hineinzuversetzen. Mit dem Willen tastet man ab, was der andere eigentlich will. Der andere wird sich innerlich jedoch erst öffnen, wenn er im Kontakt eine Atmosphäre der freien Verbundenheit erfährt und fühlt, dass er so sein darf, wie er ist.

Indem man für den anderen da ist, zuhört, was dieser sagt, und es innerlich aufnimmt, und so in Wechselwirkung gemeinsam neue Einsichten gewinnt, entsteht auf neue Weise eine Brücke zum anderen Menschen. Eine Brücke, gebaut durch die Bewusstseinskraft des inneren Geistes. Denn durch das Zurückhalten des Ego-Ichs und das bewusste Einsetzen des Gefühls, des Herzens, des Denkens und das bewusste Ausrichten auf den anderen, kann das geistige Selbst anwesend sein. Und es wird wirklicher Kontakt mit dem anderen möglich.

Jeder Mensch, dem man auf diese Weise begegnet, ist aufs Tiefste dankbar dafür. Denn in einer derartigen wahrhaftigen Begegnung durchströmt den anderen ein Gefühl der Erfüllung, des Friedens, der Harmonie und Ordnung. Er oder sie fühlt, dass im Inneren etwas geschehen ist. Es ist etwas deutlicher und kraftvoller geworden. Deshalb bedanken sich Menschen oft nach einem solchen Gespräch.

Zu seiner eigenen Überraschung merkt man, dass sich auch in einem als Zuhörer etwas verändert. Man fühlt, dass durch ein derartiges Gespräch mehr Frieden und innere Kraft in einem lebt.

Aber da ist noch mehr. Durch ein solches Gespräch fühlt man sich als Sprechender und als Zuhörer – wie unterschiedlich man auch ist und was man inhaltlich auch ausgetauscht hat – auf eine neue, freie Weise miteinander verbunden. Der Geist, der bei dieser Begegnung auf beiden Seiten geweckt wurde, hat offensichtlich nicht nur in einem selbst und in dem anderen seine Wirkung entfaltet, sondern auch zwischen den beiden Gesprächspartnern.

Dort schuf er für eine gewisse Zeit eine freie Verbindung, die ihre Basis im Verständnis, in Verbundenheit und Wärme hat. Eine Verbindung, die ein Gefühl von geistiger Stärkung gibt.

Es ist dann wirklicher Kontakt von Mensch zu Mensch entstanden.

 

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