Gut und Böse in unserer Zeit 

Margarete van den Brink

Übersetzung: Christine Roth

Wir leben als Menschheit in einer Zeit, in der sich die Bewusstseinsseele entwickelt und damit in zunehmendem Maße unser Selbstbewusstsein. Das bedeutet, dass wir ständig mehr Verantwortung für unser eigenes Denken, Fühlen und Handeln tragen. Für all das, was von uns ausgeht. Wie können wir das begreifen?

Die Entwicklung der Seele

Im Laufe der Evolution entfalteten schöpfende geistige Wesen in uns Menschen die Seele mit ihren drei unterschiedlichen Wesensanteilen. Als erste brachten sie die Empfindungsseele zum Vorschein. Mit ihr können wir die Dinge in uns und um uns herum wahrnehmen und erleben.

Es folgte die Verstandes-Gemütsseele. Sie gab uns die Fähigkeit klar und logisch zu denken.
Die Entwicklung des dritten und letzten Teils der Seele, der Bewusstseinsseele, begann am Anfang der Neuen Zeit, ungefähr um 1500 (nach Christus). Mit diesem Teil rundeten die schöpfenden geistigen Wesen die evolutionäre Entwicklung der Seele ab. Als moderne Menschen verfügen wir nun über eine Körperlichkeit: dem physischen Körper, dem Äther- und dem Astralkörper. Und daneben über ein Seelen-Instrument, das aus der Empfindungsseele, der Verstandes-Gemütsseele und der Bewusstseinsseele besteht. In jedem dieser Seelenteile lebt unser Ich auf eigene Art und Weise.

Geistige Bewusstwerdung

Mit dem Geschenk, das uns die geistige Welt mit der Bewusstseinsseele gab, sind wir in der Lage, noch eine Schicht tiefer in unserer Seele, unserem Inneren, zu leben, als das mit der Empfindungsseele und Verstandesseele der Fall wäre. Die Bewusstseinsseele macht es möglich, auf einem viel höheren Niveau als nur auf dem des Erlebens und des Intellekts zu begreifen – bewusst zu werden – was wir wahrnehmen, erfahren und denken. Und aus diesem höheren Bewusstsein heraus zu handeln. Das gilt sowohl für das Begreifen desjenigen, das von außen auf uns einwirkt als auch für das, was aus uns selbst kommt.

Das tiefere Bewusstwerden, das zur Einsicht kommen, ist möglich, weil sich die Bewusstseinsseele für die Welt des Geistes öffnet. Und damit gleichzeitig für unser geistiges Selbst. Unser geistiges Selbst lebt sozusagen in der Bewusstseinsseele. Sie bilden eine Einheit.1)

Die geistige Welt ist eine Welt der Wahrheit, Aufrichtigkeit, Schönheit, Reinheit, Gerechtigkeit, Güte und Liebe. Weil unser geistiges Selbst Teil der geistigen Welt ausmacht, leben diese Eigenschaften und Qualitäten auch in unserem geistigen Selbst. Und somit also auch in unserer Bewusstseinsseele und unserem Ich. Hier wollen sie erkannt und entwickelt werden. Dass das wirklich so ist, können wir an der Tatsache erkennen, dass wir uns bei verschiedenen Ereignissen, die sich außerhalb von uns oder in uns abspielen, fragen: Ist das wahr? Oder nicht wahr? Wie hängt das zusammen? Wie kann ich das verstehen?

Oder bei einem bestimmten Problem: Wie gehe ich auf die richtige Art und Weise damit um? Welche Entscheidung ist hier die beste? Fragen, die uns zum Nachdenken, Reflektieren und einer tieferen Bewusstwerdung bewegen.
Das resultiert daraus, dass diese Fragen ihren Ursprung in unserem geistigen Selbst haben. Das höhere Selbst zieht uns sozusagen über unser Ich zu einem neuen, höheren Niveau von Bewusstsein. Um von dort auf entsprechende Weise zu handeln.

Bill Cody

Es ist ein glücklicher Umstand, dass es Menschen gibt, oder gab, die uns dieses neue vom Geist ausgehende Bewusstsein vorleben oder vorlebten.


Ich werde dafür ein Beispiel nennen. Es handelt sich um die Geschichte von Bill Cody, erzählt von George Ritchie in seinem Buch Rückkehr von Morgen.2) Er berichtet darin, dass er als amerikanischer Soldat im Mai 1945, als der Zweite Weltkrieg zu Ende war, mit einer Gruppe amerikanischer Ärzte in einem deutschen Konzentrationslager in der Nähe von Wuppertal Hilfe leistet. Inmitten des unvorstellbaren Elends, das dort herrscht, trifft Richie einen Mann, einen polnischen Juden, der großen Eindruck auf ihn macht. Der Mann, den er Bill Cody nennt, fällt ihm auf, weil er im Gegensatz zu den anderen Gefangenen aufrecht geht, wache Augen hat und über eine fast unerschöpfliche Energie verfügt. Weil er fließend fünf Sprachen spricht, stellen ihn die Amerikaner als Dolmetscher an. Unermüdlich ist er mehr als fünfzehn Stunden täglich dabei zu helfen. Es umgibt ihn eine Aura von Liebe und Mitgefühl, an der sich Menschen wärmen. Jede Gruppierung im Lager betrachtet ihn als Freund. Wenn irgendwo Streit ausbricht, wird er als Vermittler hinzugeholt. Auch spricht er unaufhörlich mit Häftlingen, die in einem so intensiven Hassgefühl gefangen sind, dass sie jeden Deutschen, der ihnen begegnet, sofort töten wollen. Er drängt darauf, dass sie lernen müssen, ihren Feinden zu vergeben.

Er erzählt Ritchie seine Geschichte:

„Wir wohnten im Warschauer Ghetto, meine Frau und ich, unsere beiden Töchter und unsere drei kleinen Söhne. Als die Deutschen unsere Straße erreichten, stellten sie jeden an die Wand und eröffneten mit ihren Maschinengewehren das Feuer. Ich flehte sie an, zusammen mit meiner Familie sterben zu dürfen, aber da ich deutsch sprach, teilten sie mich einer Gruppe Zwangsarbeiter zu.“

Er macht eine kurze Pause und erzählt dann weiter: „In diesem Moment musste ich für mich beschließen, ob ich die Soldaten, die verantwortlich waren, hassen wollte oder nicht. Im Grunde war es keine schwierige Wahl. Ich war Anwalt. In meiner Kanzlei hatte ich schon allzu oft gesehen, was Hass anrichten kann mit dem menschlichen Körper und dem Geist. Hass hatte gerade den sechs Menschen, die für mich wichtiger waren als alles andere auf der Welt, das Leben gekostet. Darum beschloss ich in diesem Augenblick, dass ich den Rest meines Lebens – ungeachtet dessen, ob das einige Tage oder viele Jahre dauern sollte – jeden lieben würde, mit dem ich in Berührung kommen sollte.

Die Mächte des Bösen

Wenn man das liest, dann fragt man sich, wie kann es sein, dass Bill Cody in dem Moment, in dem seine Lieben vor seinen Augen erschossen wurden, nicht sofort und vollkommen von einem intensiven Hass ausgefüllt wurde, der alles vernichten wollte. Man hätte das erwarten können, da seit dem Sündenfall in jedem Menschen auf der Erde die Mächte des Bösen wirken. Neben denen von Luzifer sind das die Mächte der Unwahrheit, der Lügen und des Hasses von Ahriman und die alles vernichtende destruktive Macht von Asuras. Jeder Mensch auf Erde trägt sie in sich, selbst der Sanftmütigste. Und demzufolge auch Bill Cody. Sie warten auf den richtigen Moment – der oft voller Schmerz und Angst ist – um durch die Person nach außen zu brechen und ihr destruktives Werk zu tun.

Wie kommt es, dass das bei Cody nicht der Fall war? Wie konnte er nach dem schrecklichsten Moment seines Lebens noch beschließen, von nun an jeden Menschen, dem er begegnet, zu lieben? Die Deutschen eingeschlossen?

In unserer Zeit ist das eine höchst wichtige Frage. Weil, während unser höheres Selbst in uns wach wird, setzen diese dunklen, negativen geistigen Mächte in uns in zunehmendem Maße alles daran, um die damit einhergehende innere Wandlung der Seele zu verhindern.

Deswegen stiften sie uns mit all ihrer Macht zu Egoismus, Machtmissbrauch und Herrschaft an, schaffen Verwirrung und Chaos, indem sie Unwahrheiten und Hass säen. Dort, wo nach Erkenntnis und Wahrheit gestrebt wird, probieren sie das zu unterwandern. Überall in der Welt können wir die Tendenzen wahrnehmen.

Die Kräfte des Guten

Ohne Zweifel wären die negativen Kräfte mit dieser Absicht erfolgreich, wenn neben ihnen nicht auch andere Kräfte in der Seele wirken würden. Die Geschichte von Bill Cody lässt erkennen, dass sie existieren. Wäre das nicht der Fall, dann hätte er diese Schritte nicht tun können, und er wäre nicht der besondere Mensch geworden, der er war. Welche Kräfte sind das? Es sind die Bewusstseinskräfte des Lichts, der Liebe und des Fortschritts. Sie haben ihren Ursprung in unserem höheren Selbst und in Christus. Dadurch, dass diese hohen geistigen Kräfte seit dem Tod und der Auferstehung Christus auf Golgotha im Inneren von uns Menschen leben und wirken, können wir uns weiterentwickeln. Und damit die Kräfte von Egoismus, Hass, Unwahrheit und das Schlechte in uns selbst erkennen und überwinden.

Diese Möglichkeit haben wir der Tatsache zu verdanken, dass wir durch die wirksame Gegenwart unseres geistigen Selbst und Christus über eine Anzahl ausgesprochen wichtiger Fähigkeiten verfügen, die uns hierbei helfen. Fähigkeiten, die uns in die Lage versetzen, ungeachtet der Anwesenheit und des zunehmenden Einflusses der negativen Kräfte, innerlich so in Bewegung zu kommen und geistig aktiv zu werden, dass die Hinwendung zum Geist erfolgen und unsere Entwicklung fortgesetzt werden kann. Welche Fähigkeiten sind das?

  • Abstand von dir selbst und den Dingen um dich herum nehmen können
  • Wahrheit finden
  • Wählen können
  • Frei werden
  • Das Gute tun können

Wie erkennen wir sie? Und wie können wir sie für unsere Entwicklung nutzen?

Die fünf geistigen Fähigkeiten

Wir kehren zurück zu Bill Cody. In dem Moment, in dem das Schreckliche geschah und seine Lieben vor seinen Augen erschossen wurden, hätte er vollständig unter den Einfluss der dunklen Mächte geraten können. Das geschah jedoch nicht. Im Bruchteil einer Sekunde nimmt er Abstand, überschaut die Situation, macht sich die unterschiedlichen Wahlmöglichkeiten bewusst und fasst dann einen Beschluss, der auf einem Wert, einer moralischen Überlegung basiert.

Abstand nimmt man dadurch, dass man sich a) nicht von Emotionen überwältigen lässt, b) bewusst von einem höheren Standpunkt (vom geistigen Selbst aus) auf die Situation schaut. Tut man das nicht, dann wird man in einer derartigen Situation ohne weiteres durch negative Kräfte überwältigt und mitgerissen.

Dadurch, dass er Abstand gewinnt, überblickt Cody die gesamte Situation in einem Sekundenbruchteil. Er erkennt, was geschieht: Seine Lieben werden alle erschossen. Wahrheit finden bedeutet in seinem Fall: Erkennen, was in diesem Moment passiert und gleichzeitig bewusst werden, auf welche verschiedene Art und Weise er reagieren kann. Danach wählt er innerhalb eines Augenblicks die einzige Reaktion, von der er von innen heraus fühlt, dass es die richtige ist. Ausgehend von der Kraft, die er dadurch empfängt – denn das Finden der Wahrheit gibt Kraft – kann er „nein“ sagen zu den Kräften des Hasses und der Zerstörung, die in seinem Inneren aufwallen und ihn zu negativen Handlungen verleiten wollen. Er kann ihnen widerstehen. Er weiß, welche Folgen es haben würde, wenn er sie in seinem Innern zulassen würde. Die Beispiele hierfür hatte er in seiner Tätigkeit als Anwalt und im Konzentrationslager gesehen. Er wusste, in welche Falle er tappen würde. Durch inneres „nein“-Sagen zu Hass und Vernichtungskräften in sich selbst, befreite er sich von der Herrschaft der dunklen Mächte und vom Bösen.

Das Vorangegangene lässt erkennen, dass wir es hier mit vier der oben genannten Fähigkeiten zu tun haben: Cody reflektiert, nimmt Abstand, überblickt die Situation, kommt zur Einsicht, findet Wahrheit und kann sich dadurch entscheiden, sich frei zu machen von den dunklen Mächten.

Freiheit

Freiheit kennt zwei Aspekte. Man kann sich von etwas und für etwas befreien. Dadurch, dass er Wahrheit fand und sich nicht durch negative Mächte beherrschen ließ, wurde Cody frei von etwas. Anschließend traf er in Freiheit die Wahl für etwas: Aufgrund der Erkenntnis, was Hass in Menschen anrichtet, entscheidet er sich für das Gegenteil und beschließt den Weg des Guten zu gehen: Liebe aufzubringen für jeden Menschen, dem er begegnet. Mit anderen Worten: Er entscheidet sich dafür, anderen Menschen Zuwendung und Liebe zu geben und sie zu stützen auf ihrem Weg durchs Leben. Wer sie auch sein mögen.

Das wurde sein neues Lebensmotto. Es ist dieses moralische Prinzip, dieser moralische Wert, hervorgegangen aus der Welt des Geistes, nach dem Cody zukünftig leben will. Auch dieser moralische Wert „das Gute tun“ kommt aus seinem geistigen Selbst und der darin wirkenden Kraft von Christus. Sie gibt ihm die geheimnisvolle Stärke und Gesundheit, über die er verfügt, und das Mitgefühl für die Menschen, die leiden. Und nicht zu vergessen, das Verständnis für die tiefen Hass- und Zerstörungskräfte, von denen die Deutschen im Konzentrationslager beherrscht werden. So wird er innerlich frei. Kein einziges (religiöses) Gesetz hat ihm von außen auferlegt, wie er handeln muss, welche Wahl er treffen muss. Seine freie Entscheidung kam einzig und allein aus seinem tiefsten Innern, aus der moralischen Kraft seines eigenen geistigen Selbst.

Michael

Diesen Prozess, ausgehend von den fünf Fähigkeiten, können wir Menschen dieser Zeit überall, zu jeder Tageszeit auch in unserem eigenen Leben durch Reflexion unseres Denkens, Fühlens und Handelns üben. Wenn wir das tun, dann entsteht in uns eine ständig größere Freiheit durch ein freies und gereinigtes lebendiges Denken und Bewusstsein. Damit transformieren wir unser Inneres im geistigen Sinn.

Wir können diesen Reflexionsprozess die Michaelische Weise des Denkens und Bewusstseins nennen. Es ist schließlich die Aufgabe des Erzengels Michael, gemeinsam mit uns Menschen, das Böse auf der Erde durch das Bewusstsein und durch Taten der Liebe zu überwinden und in Selbstlosigkeit, Wahrheit, Aufrichtigkeit und das Gute zu verwandeln.

Das bedeutet, dass jeder Versuch, den wir Menschen dahingehend unternehmen, dem großen Zeitgeist Micheal hilft, seine gigantische Aufgabe zu erfüllen.


  1. Rudolf Steiner, Theosophie. Einführung in übersinnliche Welterkenntnis und Menschenbestimmung. Kapitel Körper, Seele und Geist.
  2. Ritchie, G.G., Rückkehr von Morgen, Francke Buchhandlung.

 

naar boven